175 Jahre evangelischer Friedhof Voerde

von Hermann Hirschberg

A. Die Bestattung der Verstorbenen bis zum Jahre 1829

Da, wo sich heute unsere äußerlich zwar schlichte, in ihrem Innern aber prächtig ausgestaltete spätbarocke Kirche "Johannes der Täufer" erhebt, hat schon 1225/26 ein Gotteshaus gestanden, wie der mittelalterliche Histograf Cäsarius von Heisterbach in der Beschreibung des Lebens, des Todes und der Wunder des Erzbischofs Engelbert I. von Köln (um 1185 - 1225) berichtet. Wie alt dieses Gotteshaus, vermutlich ein Holz- oder Fachwerkkirchlein, damals schon gewesen ist - 100 Jahre, 150 Jahr oder gar schon älter? - wissen wir nicht. Nachrichten in Abgabenregistern des 11. und 12. Jahrhunderts über den damaligen Hof Voerde bzw. später Altenvoerde lassen aber immerhin darauf schließen, dass Kirche und Kirchspiel Voerde - aus Letzterem ging unsere Kirchengemeinde hervor - in der Zeit zwischen 1075 und 1125 entstanden sein dürften. Bis zum Jahre 1829, also mindestens 600 Jahre, vielleicht sogar 750 Jahre lang, haben die Voerder, wie in jenen alten Zeiten allgemein üblich, ihre Verstorbenen rings um die Kirche zur letzten Ruhe bestattet. Wenn man davon ausgeht, dass ein Jahrhundert drei Generationen umfasst, so bedeutet das, dass unter dem jetzigen Kirchplatz rings um unsere Voerder Kirche, dem alten Voerder "Kirchhof", 20 bis 25 Generationen von Voerdern ruhen. Denken wir daran, wenn wir heute über den Kirchplatz gehen

B. Der heutige Voerder Friedhof

I. Der neue Voerder Friedhof mit dem Tempelchen, dem Vorgänger der heutigen Friedhofskapelle

Durch die Zunahme unserer Kirchengemeinde, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts infolge der indurstiellen Entwicklung besonders stark eingesetzt hatte, war der alte "Kirchhof" zu klein geworden, so dass er 1829 geschlossen werden musste. Darüber hinaus hatte sich in der Kirchengemeinde aber auch mehr und mehr das Bestreben durchgesetzt, den sogenannten "Totenhof" aus dem Zentrum an den Rand des Dorfes zu verlegen. 1829/30 ließ die Kirchengemeinde nach mehrjährigen Vorbereitungen und Planungen auf den Pfarr- und Küstergrundstücken etwa 150 m südöstlich der Kirche, damals "Kämpchen" und "Kleine Bredde" genannt, nach den Plänen des damaligen Voerder Pastors Gottlieb Westhoff und des Königlichen Hofgarten-Direktors Maximilian Friedrich Weyhe aus Düsseldorf einen neuen Friedhof anlegen, den das Königliche Konsistorium in Münster, die zuständige kirchliche Aufsichtsbehörde jener Zeit, ausdrücklich als "Muster-Friedhof" lobte. Er wurde am Sonntag "Exaudi" (23. Mai) 1830 anlässlich der ersten Bestattung dort durch Pastor Westhoff feierlich eingeweiht.

Wie klein dieser "Totenhof", der älteste Teil der heutigen Friedhofs, ursprünglich gewesen ist, macht eine Zeichnung des damaligen Hilfspredigers Julius Rollmann aus Voerde deutlich, die das Dorf um das Jahr 1850 aus der Richtung "Ortsheide/Fasanenweg" gesehen zeigt: Er umfasst zwei preußische Morgen, das sind 5.000 m². Auf der Zeichnung ist der offenbar von Tännchen umsäumte Friedhof über dem Dorfrand links neben der Kirche zu sehen, in seiner Mitte das Tempelchen, der Vorgänger der heutigen Friedhofskapelle.

Ein deutlicheres Bild des Tempelchens, eines runden Ziegelbaues mit schiefergedecktem Kuppeldach, bietet Rollmanns Zeichnung von Voerde um 1840, eine Ansicht des damaligen Dorfes aus der Richtung "Breckerfelder Straße/Neuer Höfinghof", auf der es etwa in der Mitte des rechten Bildrandes zu erkennen ist.

Den Plan für das Tempelchen, das auf dem Vorplatz der heutigen Friedhofskapelle gestanden haben dürfte, entwarf der Voerder Schreinermeister Johannes Daniel Rafflenbeul, der 1826 auch die Kanzel der Rüggeberger Kirche schuf und in dessen Werkstatt 1822 wohl auch das Epitaph für Johann Daniel Goebel (1729 - 1822), den großen Wohltäter unserer Kirchengemeinde, entstanden ist, das heute im südlichen Eingangsraum unserer Voerder Kirche seinen Platz hat. In den Unterlagen unseres Gemeindearchivs ist ausdrücklich vermerkt, dass in dem Tempelchen bei schlechtem Wetter die Leichenpredigt gehalten werden sollte.

II. Die ersten Erweiterungen des Friedhofes und der Bau der Friedhofskapelle:

1. Die ersten Erweiterungen des Friedhofes
Die fortschreitende Industrialisierung hatte auch im Voerder Raum einen starken Anstieg der Einwohnerzahl zur Folge. Mit diesem Bevölkerungszuwachs stieg naturgemäß auch stetig die Zahl der Sterbefälle, so dass der Friedhof in seiner ursprünglichen Größe für die zunehmende Zahl der Bestattungen schon bald nicht mehr ausreichte. Aus den Akten unseres Gemeindearchivs ist zu entnehmen, dass die Kirchengemeinde darum schon in den Jahren 1854 und 1864 Erweiterungen des Friedhof durchgeführt hat.

Sie nahm dafür wiederum Grundstücke aus dem Pfarr- und Küstervermögen in Anspruch, die zwischen dem alten Nordwestrand des Friedhofs und dem heutigen Hauptweg lagen. Aber auch diese ersten Friedhofserweiterungen reichten nach relativ kurzer Zeit nicht mehr aus. 1883 erwarb die Kirchengemeinde darum von den Erben des Friedrich Wilhelm Leninghaus ein größeres Grundstück, das zwischen dem alten Südostrand des Friedhofs und der heutigen Hagener Straße lag. Ein weiteres Grundstück, nordöstlich des Friedhofs gelegen, kaufte die Kirchengemeinde 1899 von dem Landwirt Wilhelm Niggeloh am Neuen Höfinghof. Auch diese beiden Grundstücke dienten Erweiterungen des Friedhofs, der danach Anfang des 20. Jahrhunderts 13.714 m² (= 1 ha 37 a 14 m²) umfasste.

2. Bau und ursprüngliche Gestaltung der Friedhofskapelle

Offenbar ist das Tempelchen den Erfordernissen der stetig wachsenden Gemeinde um die Wende des 19. zum 20. Jahhundert nicht mehr gerecht geworden. Denn die Leitungsgremien der Kirchengemeinde (größere Gemeindevertretung und Presbyterium) beschlossen in dieser Zeit, eine neue, größere Friedhofskapelle zu bauen. Das Projekt wurde in den Jahren 1901/02 nach den Plänen des Königlichen Baurats Ewald Figge, Hagen, eines Sohnes der Gemeinde, im Stil der Neuromanik ausgeführt, das Tempelchen schon 1901 abgetragen. Im Ganzen machte das von Nordwesten (Eingangsseite) nach Südosten (Apsis) ausgerichtete Bauwerk seinem Stil gemäß einen massigen, schweren Eindruck. Der Kapelle war an ihrer Nordwestseite eine niedrigere Vorhalle vorgesetzt, deren offenes, von einem wulstigen Bogen überspanntes Portal von vier gedrungenen Säulen auf massigen Basen und mit wuchtigen Kapitellen, je zwei auf jeder Seite schräg hintereinander gestellt, getragen wurde.

Der Kapelle war an ihrer Nordwestseite eine niedrigere Vorhalle vorgesetzt, deren offenes, von einem wulstigen Bogen überspanntes Portal von vier gedrungenen Säulen auf massigen Basen und mit wuchtigen Kapitellen, je zwei auf jeder Seite schräg hintereinander gestellt, getragen wurde. An ihrer Südostseite schloss die Kapelle mit einer niedrigen, schmalen Rundapsis ab. Über einem Sockel begrenzten und gliederten jeweils vier Lisensen die Außenwände an den Längsseiten der Kapelle und die Außenwand der Apsis und teilten jede dieser Wandflächen in drei hochrechteckige Felder. Zwei- und dreiteilige Fenster, jeder Fensterteil rundbogig abschließend, hellten auf beiden Seiten der Vorhalle und auf den Längsseiten der Kapelle die Mauermassen auf. Drei kleinere rundbogig abschließende Fenster erhellten die Apsis. Schön gestaltete umlaufende Blattwerk- und Bogenfriese schlossen an Vorhalle und Kapelle auf allen Seiten das Mauerwerk oben gegen das Dach ab. Nur das angeschnittene flache Kegeldach der Apsis wurde von einem wulstigen profilierten Gesims unterfangen. Ein Blendvierpass schmückte über über dem Portalbogen den Giebel der Vorhalle, den ein massives Kreuz aus Zinkguss krönte.

Über der nordwestlichen Giebelseite der Kapelle erhob sich, ein wenig nach Südosten versetzt, auf quadratischem Grundriss ein nach allen Seiten offener Dachreiter, in dem eine kleine Glocke hing. Er trug ein hohes schmiedeeisernes Kreuz. Eine Treppe führte aus der Vorhalle in den Andachtsraum der Kapelle, den die grün ornamentierten Scheiben der Fenster in ein gedämpftes Licht tauchten. Auch die Apsis wurde durch die klar verglasten kleinen Fenster nur schwach erhellt.

Im Übrigen war die Ausstattung der Kapelle in jener Zeit wohl bescheiden. Sie bestand nach den Unterlagen unseres Gemeindearchivs lediglich aus zwei Bänken, die an den Längsseiten des Raumes standen, aus einem Kalafalk und aus einem Altar, sämtlich in der Werkstatt des Voerder Schreinermeisters August Schwarz angefertigt. Über die Gestaltung des Altars, des wohl bedeutendsten Ausstattungsstückes, ist nichts bekannt. Er dürfte aber eher schlicht gewesen sein.

III. Der Friedhof in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahhunderts

1. Weitere Grundstückserwerbungen zur Erweiterung des Friedhofs

Die im zweiten Teil dieser Geschichte des Voerder Friedhofs bereits behandelten Grundstückskäufe von 1883 und 1899 waren die ersten einer bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinreichenden Reihe von Grundstückserwerbungen zur Erweiterung des Friedhofs: Schon 1904 erwarb die Kirchengemeinde dazu von der damaligen politischen Gemeinde Voerde durch Grundstückstausch ein kleineres Grundstück. 1920 konnte sie dann von dem Landwirt Ernst Clever, Am alten Höfinghoff (heute Feldstraße), noch ein weiteres, größeres Grundstück kaufen. Am Anfang der 20er Jahre umfasste der Friedhof damit 20.651 m² (= 2 ha 6 a 51 m²).

Der 1. Weltkrieg (1914 - 1918) hatte aus der damaligen politischen Gemeinde Voerde sehr viele Opfer gefordert. Ein 1920 aus Vertretern der politischen Gemeinde, der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinde sowie zahlreiche Vereine gebildeter "Ausschuss für Kriegerehrung" machte es sich darum zur Aufgabe, für die Gefallenen und Vermissten aus Voerde eine würdige Gedenkstätte zu schaffen. Aus den ihr vorgelegten Plänen dazu wählte die "Beratungsstelle für Kriegerehrungen" (für die damalige Provinz Westfalen) in Münster mit einem sehr lobenden Gutachten vom 18.5.1922 den Entwurf des Kasseler Bildhauers Eduard Timaeus aus. Etwa Mitte 1922 richtete der "Ausschuss für Kriegerehrung" einen von Pfarrer Florenz Arnold Siekermann verfassten und von 46 namhaften Bürgern unterzeichneten Spendenaufruf an die Voerder Bevölkerung. Ihm scheint auch - trotz der damals herrschenden Inflation - Erfolg beschieden zu sein, denn schon einige Zeit danach (1923?) war die von Bildhauer Timaeus gestaltete Gedenkstätte auf dem Voerder Friedhof vollendet.

Mittelpunkt der Gedenkstätte ist die große, aus einem Muschelkalkblock geschlagene Figur der "Trauernden Frau". Ihre stattliche Gestalt ruht in halb liegender, halb sitzender Haltung auf einem Sockel vor einer Giebelwand aus Kunststein. Ihre Beine liegen leicht angewinkelt übereinander. Der Oberkörper wird mit dem gestreckten linken Arm rückwärts abgestützt, während der angewinkelte rechte Arm mit dem Ellbogen auf dem Knie des leicht angezogenen rechten Beines ruht. Das geneigte Haupt, dessen üppiges Haar zu einem großen Knoten gewunden ist, lehnt gegen die rechte Hand. Um den rechten Arm, die rechte Schulter, den linken Unterarm, über Schoß und Beine ist in schönem, reichen Faltenwurf ein antikes Gewand gelegt.
In seiner Art und Ausführung, die an die Darstellungen liegender Frauengestalten in der klassischen Antike, in der Renaissance und im Barock erinnern, ist dieses großartige Mahnmal der "Trauernden Frau" so ganz anders als die meisten Kriegerdenkmäler jener Zeit: Kein markig-trotziges, herorisierendes Pathos, kein martialischer Dekor, nur tiefe Trauer um die Opfer eines weltweiten kriegerischen Wahns. Aber dadurch ist es eines der eindruckvollsten und künstlerisch wertvollsten Kriegsmahnmale unserer Heimat, in seiner Gestaltung und Aussage zeitlos.

Der Sockel trägt die Inschrift: "Niemend hat größere Liebe / denn die / daß er sein Leben lasse für seine Freunde - Ev. Joh. 15. V. 13 - Errichtet von der Gemeinde Voerde."
In die 18 quadratischen Felder der Mauerkrone, zu beiden Seiten der "Trauernden Frau" je neun, sind die Namen der 255 Opfer des 1. Weltkriegs aus der damaligen politischen Gemeinde Voerde eingemeißelt. Vor dem Mahnmal in der Rasenfläche liegen unter schlichten Steinkissen die Gräber von 29 Gefallenen des 1. und 4 Gefallenen des 2. Weltkriegs. Weitere 18 Gefallene des 2. Weltkriegs fanden vor der Mauer des Mahnmals ihre letzte Ruhestätte.

Heute gilt die Gedenkstätte allen Opfern, die beide Weltkriege, Flucht und Vertreibung, nationalsozialistische und stalinistische Gewaltherrschaft gefordert haben.

IV. Der 2. Weltkrieg und die ersten Jahre danach

1. Das Gräberfeld der ausländischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter

Die Anlage der Gedenkstätte für die Gefallenen und Vermissten des 1. Weltkriegs (1914 - 1918) in der 1. Hälfte der 20er Jahre, im III. Teil dieser Friedhofsgeschichte geschildert, hatte der "Ausschuss für Kriegerehrung", eine Vereinigung aus Vertretern der politischen Gemeinde, der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinde sowie zahlreicher Voerder Vereine, nicht die Kirchengemeinde, veranlasst und finanziell getragen. Von der Kirchengemeinde selbst sind zwischen den beiden Weltkriegen, in einer Zeit schwerster wirtschaftlicher und sozialer Krisen mit katastrophalen Folgen, keine wesentlichen Veränderungen auf dem Friedhof durchgeführt worden, zumindest finden sich dafür in unserem Gemeidearchiv keine Belege. Unter dem Druck der Sach- und Handlungszwänge, die der 2. Weltkrieg (1939 - 1945) mit sich brachte, trat in dieser Hinsicht eine grundlegende Wandlung ein. Während des 2. Weltkriegs kamen nicht nur sehr viele polnische, französische, jugoslawische, sowjetische und italienische Kriegsgefangene nach Voerde, sondern in großer Zahl auch Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den russischen und ukrainischen Gebieten der damaligen Sowjetunion, damals "Ostarbeiter" genannt. Vorwiegend wurden alle diese Menschen hier in der Landwirtschaft und Industrie eingesetzt, um die zum Kriegsdienst einberufenen deutschen Männer und Frauen zu ersetzen.

Am 13. und 14.4.1945 besetzten amerikanische Truppen das Voerder Gebiet. Drei Wochen später, am 6.5.1945, mussten die deutschen Bewohner des Dorfes ihre Wohnungen verlassen, ihr Hab und Gut aber größtenteils zurücklassen. Im Dorf wurde ein Lager für ausländische Kriegsgefangene und verschleppte Personen eingerichtet, in dem in Laufe der Zeit nacheinander Russen und Ukrainer, Italiener, Jugoslawen (Serben), Polen und Roma/Sinti untergebracht waren. Erst Mitte 1948 konnten die letzten evakuierten deutschen Familien ihre Wohnungen im Dorf wieder beziehen.

Die in all diesen Jahren verstorbenen Russen, Ukrainer, Jugoslawen (Serben) und Italiener wurden auf einem Gräberfeld am damaligen nordöstlichen Rand des Friedhofs beigesetzt. Später sind die sterblichen Überreste der Italiener exhumiert und nach Italien überführt worden. Heute ruhen auf diesem Gräberfeld, das ebenfalls zu einer würdigen Ehrenanlage ausgestattet worden ist, neben 28 Jugoslawen (Serben) noch 66 Russen und Ukrainer, von denen 34 unbekannt sind. Auch für diese Toten gibt es ewiges Ruherecht.

V. Der Umbau der Friedhofskapelle im Jahre 1952

1. Zu den Gründen des Umbaus

Wie in den meisten Orten der näheren und weiteren Umgebung war es auch in Voerde von alters her und über eine lange Zeit hinweg Brauch, die Verstorbenen bis zum Bestattungstage in ihrer Wohnung aufzubahren. Hier fand dann auch am Tage der Beisetzung - in der Regel am dritten Tag nach dem Todestag - am offenen Sarg zunächst eine Trauerandacht im Kreise der Familienangehörigen und nächsten Verwandten des Toten statt. Erst danach wurde der Sarg geschlossen und der Leichnam von den Familienangehörigen und anderen Verwandten sowie von Nachbarn, Freunden und Bekannten in einem Trauerzug vom Sterbehause zum Friedhof geleitet, wo der Pfarrer am offenen Grab vor den Teilnehmern des Leichenbegängnisses die Traueransprache hielt. Weder die Friedhofskapelle noch zuvor das Rundtempelchen, ihr Vorgänger, haben in dieser Zeit eine Aufbahrungsmöglichkeit geboten, weit beide noch nicht über die dazu erforderlichen Räumlichkeiten (Aufbahrungskammern) verfügten. Auch die Friedhofskapelle war ja zunächst - wie das Rundtempelchen - nur gebaut worden, um bei schlechtem Wetter in ihr die Traueransprache halten zu können.

In den 1950er Jahren trat in diesem althergebrachten Brauchtum dann ein tiefgreifender und umfassender Wandel ein, dessen Ursachen vor allem in den Folgen des Zweiten Weltkrieges lagen: Schon während des Krieges waren in stetig zunehmender Zahl Familien aus den luftkrieggefährdeten Ruhrgebietsstädten auch nach Voerde evakuiert worden, wo man sie weniger gefährdet wähnte. Von ihnen konnten viele nach dem Ende des Krieges auch nicht wieder in ihre Heimatstädte zurückkehren, weil ihre Wohnungen dort bei alliierten Luftangriffen zerstört worden waren. Am Ende des Krieges setzte dann der Zustrom von Vertriebenen aus Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien ein, denen wenig später die Flüchtlinge aus der damaligen sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, folgten. An den Bau von Wohnungen für alle diese Menschen war auf Grund der durch den Krieg zerrütteten Wirtschaft jedoch bis nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948 nicht zu denken.

Für Voerde kam noch erschwerend hinzu, dass die Bewohner des Dorfes wegen der Einrichtung eines Lagers für ausländische Kriegsgefangene und verschleppte Personen vom 6. Mai 1945 bis Juni 1948 aus ihren Wohnungen evakuiert waren und gleichfalls anderweitig untergebracht werden mussten. Die Folge war eine katastrophale Wohnungsnot, der auch eine noch so strenge Wohnraumzwangswirtschaft nicht Herr zu werden vermochte und die es je länger umso mehr unmöglich machte, in den größtenteils überbelegten Wohnungen auch noch die Verstorbenen aufzubahren. In Anbetracht dieser Verhältnisse sah sich die Voerder evangelische Kirchengemeinde als Trägerin des Voerder Friedhofs verpflichtet, durch einen entsprechenden Umbau der Friedhofskapelle Abhilfe zu schaffen und damit auch den hygienischen Erfordernissen Rechnung zu tragen.

(Bild: Die Nordwestseite der Friedhofskapelle während des Abbruchs der neuromanischen Vorhalle.)

2. Art und Umfang des Umbaus

Der Umbau zur Erweiterung der Friedhofskapelle, durch den sie ihr neuromanisches Erscheinungsbild weitgehend einbüßte, fand im Jahre 1952 nach den Plänen und unter der Leitung des Architekten Ludwig Adam, Ennepetal-Milspe, statt. Zunächst trug man an der Nordwestseite der Kapelle die neuromanische Vorhalle und den Dachreiter ab. Die kleine Glocke aus dem Dachreiter verschwand auf dem Dachboden der Kapelle, wo sie im Laufe von drei Jahrzehnten der Vergessenheit anheim fiel.

Die neu errichtete unterkellerte Vorhalle hatte die gleiche Breite und Höhe wie die an sie anschließende Andachtshalle und war etwa halb so lang wie diese. In ihrem Kellergeschoss, zu dem seither auf der Südwestseite eine Außentreppe hinabführt, wurden fünf Aufbahrungskammern eingerichtet. Darüber hinaus erhielt die Friedhofskapelle einen Aufzug zur Beförderung der Särge aus den Aufbahrungskammern im Kellergeschoss in die Andachtshalle im Erdgeschoss.

Eine hohe dreiteilige Bogenarchitektur öffnete die Nordwestwand (Giebelwand) im Erdgeschoss arkadenartig und verlieh der neuen Vorhalle dadurch von außen betrachtet den Charakter einer Bogenlaube. Vom Kapellenvorplatz aus führte eine achtstufige Außentreppe zu ihr empor. Sie war fast so breit wie die Kapelle und auf beiden Seiten von einer Mauerbrüstung eingefasst. In Höhe der Bogenansätze durchzog ein Metallanker das tragende Mauerwerk und die Bogenöffnungen, der auf der Südwest- und der Nordostseite jeweils von einem kleinen goldfarbenen lateinischen Metallkreuz gehalten wurde. Er trug in den drei Bogenöffnungen verschiedene Symbole und zwar in der (vom Betrachter aus gesehen) linken den griechischen Buchstaben Alpha, in der mittleren die Silhouette einer Schale und in der rechten den griechischen Buchstaben Omega. Diese ebenfalls in Metall gearbeiteten Zierrate, von der Malerin und Bildhauerin Elisabeth Altenrichter-Dicke, Ennepetal-Voerde, entworfen, wiesen den Betrachter auf Gottes Verheißung (Offenb. 1,8.11; 21,6; 22,13) hin: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte, der Herr, der da ist und der da war und der da kommt."

Ein einfaches Gesims grenzt seither auf der Nordwestseite der Kapelle in Höhe der seitlichen Ansätze der Dachschrägen das Erdgeschoss gegen das Giebelfeld ab, dessen künstlerische Gestaltung ebenfalls ein Werk der Malerin und Bildhauerin Elisabeth Altenrichter-Dicke ist. Es zeigt, ursprünglich in Sgrafitto angelegt, Christus als Weltenrichter. Er hält das flammende Richtschwert in seiner Rechten nach unten gesenkt. Seine Linke trägt die mit einem Kreuz gekrönte Weltkugel. Unter dem Bildnis des Weltenrichters ist das Bibelwort (Ps. 111,3 und Ps. 112,9) zu lesen: „Seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich."

Dieser erste große Umbau der Friedhofskapelle bedingte auch wesentliche Änderungen und Ergänzungen in der Ausstattung der Andachtshalle, die durch eine Neuverglasung aller Fenster nun sehr viel lichter geworden war.

Schon damals hat die Kirchengemeinde die meisten der Bänke anfertigen lassen, die noch heute in Gebrauch sind. Die beiden alten Bänke von 1902 fanden in der Vorhalle an den Seitenwänden ihren Platz. In der Apsis wurde der alte Holzaltar abgetragen und durch einen schlichten steinernen Altartisch ersetzt, der allerdings einen in seiner künstlerischen Gestaltung beeindruckenden Aufsatz erhielt: das von dem Bau- und Kunstschlossermeister Heinrich Spormann, Schwelm, geschaffene kunstgeschmiedete Eisenkreuz, dessen Schaftfuß zu beiden Seiten von einer Schlange flankiert wird. Auf dieses Kunstwerk wird später noch näher einzugehen sein. Am 21. Oktober 1952 beschloss das Presbyterium, für die Friedhofskapelle auch ein Harmonium anzuschaffen. Das daraufhin erworbene Instrument ist bis 1967 bei den Trauergottesdiensten gespielt worden; dann trat das Positiv an seine Stelle, zu dem später ebenfalls noch Weiteres auszuführen ist.

3. Baumaßnahmen im Gefolge des Kapellenumbaus

In jener Zeit hat die Kirchengemeinde an der Südostseite der Friedhofskapelle, hinter der Apsis ein Wasserbecken anlegen lassen. Es war über einem mehreckigen Grundriss erbaut und hatte eine schöne Bruchsteinverkleidung. Auf die Mitte seiner geraden Rückwand war ein niedriger Pfeiler gesetzt, durch den die Wasserleitung verlief. Er trug als zierenden Abschluss ein künstlerisch gestaltetes so genanntes "eingerolltes Ankerkreuz". Ursprünglich war die Friedhofskapelle 1901/02 zwar errichtet worden, um in ihr bei schlechtem Wetter die Grabreden halten zu können (die eigentlichen Trauerandachten fanden ja damals in der Regel in den Trauerhäusern statt), doch dürfte sie dazu bis zu ihrem Umbau 1952 wohl nur selten, wenn überhaupt, benutzt worden sein. Vor allem diente sie in jenen Jahren der Aufbewahrung des Arbeitsgerätes für den Friedhofswärter. Das war aber nun, nach der schon früher beschriebenen Neuordnung des Bestattungswesens und nach dem entsprechenden Umbau der Friedhofskapelle nicht mehr möglich. Darum ließ die Kirchengemeinde südwestlich der Friedhofskapelle an der Hecke zum Friedhofsweg ein Gerätehäuschen errichten, an das sich sicherlich noch viele ältere Voerder Bürger erinnern werden.